Mittwoch, 27. Dezember 2017

Überlebensmechanismen und Trauma-Bonding in der Prostitution

CC BY SA 2.0. - Kiran Foster
“Wir wurden gebrochen. Wir wurden zerrissen. Wir erhielten von $20 bis $5000 und es fühlt sich gleich an. Es fühlt sich an wie $2. Es gibt keinen Unterschied zwischen High-Class und Low-Class. Ich habe alles davon hinter mir und es fühlt sich alles gleich an” - Ne`cole Daniels
 „Ich war ein High-Class-Escort und wir haben uns immer vorgemacht, dass das, was wir getan haben, so viel besser war, als das, was die Prostituierten auf der Straße oder in den schäbigen Bordellen tun. Die Wahrheit ist, dass wir genau das Gleiche gemacht haben: wir hatten gefakten Sex für Geld. Es macht keinen Unterschied, dass die Laken sauber waren“ - Tanja Rahm
Immer wieder stellen wir in Debatten fest, dass die Gruppe der prostituierten Frauen aufgesplittet wird: In zwangsprostituierte Frauen und „freiwillige“ prostituierte Frauen. Wenngleich die Definition dessen, was Zwang bedeutet, variiert, ist die Logik immer die gleiche: Es gibt Frauen, die gezwungen sind, sich zu prostituieren, mit Gewalt oder aus ökonomischer Not heraus und die unser Mitleid verdienen – und jene, die sich „frei“ dazu entschieden haben, obwohl sie doch- ganz offenkundig - Alternativen hätten. Zum Beispiel, weil sie Deutsche sind und Hartz IV beziehen können, anders als die arme Rumänin, die hier von Sozialleistungen ausgeschlossen ist und im Heimatland im heruntergekommenen Armen-Ghetto lebt. Weil sie Akademikerinnen sind, studiert haben oder einen „anständigen“ Beruf gelernt haben. Diese Frauen haben dementsprechend in den Augen mancher „selbst schuld“ und verdienen unser Mitleid nicht.
„Die Wahrheit ist, dass Radikal-Feministinnen hier auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und sie die einzigen Feministinnen sind, die voll und ganz verstehen, worum es geht und warum das so ist. Sozialistische Feministinnen haben meinen Respekt, aber sie haben nicht ganz verstanden, worum es geht. Prostitution existiert nicht als Folge der wirtschaftlichen Entrechtung der Frau. Armut ist begünstigender Faktor. Aber kein Grund. Begünstigende Faktoren sind keine Gründe. Sie sind einfach begünstigende Faktoren.“ - Rachel Moran
Dabei wird übersehen, dass auch Frauen, die deutsch und weiß sind und studieren, in Armut leben können. Auch sie können aus dysfunktionalen Familienverhältnissen stammen und sexuelle, physische oder oft auch emotionale Gewalt erfahren haben und ihre Traumata in der Prostitution reinszenieren. Rachel Moran weist darauf hin, dass eine Sichtweise, die nur die materiellen Lebensbedingungen als Ursache von Prostitution ansieht, verkürzt ist.

“Andrea Dworkin hat mal gesagt, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit das Boot-Camp für die Prostitution ist. Tief in meinem Inneren weiß ich, dass das stimmt. […] Meinen ersten Freier zu machen unterschied sich nicht großartig von der Vergewaltigung durch [meinen Stiefvater]. - Jacqueline Lynne
„Als ein früheres Opfer sexuellen Missbrauchs, wäre ich niemals auf den Gedanken gekommen, dass ich irgend etwas Besseres verdient hätte. Die Worte derjenigen, die mich in der Vergangenheit missbraucht haben klingen noch in meinem Kopf – „das ist alles, wofür du zu gebrauchen bist“. Das sind Worte, die ich aus tiefster Seele geglaubt habe.“ – Charlotte
Zahlreiche Prostitutionsüberlebende berichten von einem extrem niedrigen Selbstwertgefühl zum Zeitpunkt des Einstiegs in die Prostitution.
“Ich denke, ich habe gelernt, Sex mit Geld zu verknüpfen“ – Linda
„Das Wissen, das in deinen Körper gedrillt wird, dass du nur dann etwas wert bist, wenn du verletzt wirst. Nur dann, wenn du benutzt wirst.“ - Christine Stark
Traumatische Situationen können abhängig machen, denn es wird dabei viel Adrenalin ausgeschüttet – und das macht süchtig. Zudem ist für Menschen, die so viel Gewalt erlebt haben, wie sie in der Prostitution stattfindet, eine Gewaltsituation etwas, was sie kennen. Ich habe von klein auf erlebt: da, wo ich Angst habe, wo mir Schmerzen zugefügt werden, wo ich abgewertet werde, da gehöre ich hin. Das ist Zuhause. Deswegen habe ich bis heute damit zu kämpfen, mich in Situationen, die mich gefährden, dagegen zu entscheiden und wegzugehen. Sie sind scheiße, aber sie sind mir bekannt und vertraut. Situationen, in denen Menschen nett zu mir sind, nicht schreien, nicht schlagen, nicht missbrauchen, sind mir unheimlich. Ich fühle mich prompt minderwertig. Meine Seele signalisiert: „Hier stimmt was nicht. Das ist fremd.“ Prostitution ist wie selbstverletzendes Verhalten. Nein, Prostitution IST selbstverletzendes Verhalten.“ - Huschke Mau
Der Körper ist nach dem Soziologen Bourdieu eine „Gedächtnisstütze“ für die soziale Ordnung: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtetes Wissen, sondern das ist man“. Hieraus folgt, dass Strukturen sozialer Ungleichheit oder der Geschlechterhierarchie eben nicht mit Gewalt oder physischem Zwang durchgesetzt werden müssen, sondern die individuellen und kollektiven Erfahrungen unbewusst verinnerlicht werden.
“Jedes Mal, wenn ein Mann ins Bordell kam und mich dafür bezahlte, ihn zu befriedigen, habe ich es so empfunden, als wäre ich etwas wert. Nicht wegen ihm, nicht wegen dem, was dort vor sich ging, sondern wegen des Geldes. Das Geld hat mich eine lange Zeit verleitet. Es verlieh mir das Geld das Gefühl, wirklich etwas wert zu sein“ – Tanja Rahm
„Manche Frauen sind auch süchtig nach Aufmerksamkeit. Ich weiß, dass ich es war. Ich liebte es [von den Freiern] gegenüber den anderen [prostituierten Frauen] ausgewählt zu werden, als ich noch jung war und meine OPs hinter mir hatte“ - Linda 
„Ich habe den Raum mit Geld in meinen Händen verlassen. Ich dachte mir, dass dies „einfach“ verdientes Geld war. Ich habe mich frei gefühlt, unbeschwert. Ich hatte das Gefühl eines pseudo-sexuellen Empowerments. Zumindest musste ich nicht so tun, als wäre ich verliebt. Ich war nicht in einer anhaltenden missbräuchlichen Beziehung gefangen, zumindest glaubte ich das.“ - Jacqueline Lynne
Einer Person ohne Missbrauchserfahrung mag das auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, jedoch ist es ein immer wiederkehrenden Motiv, dass Frauen, die eine Gewalthistorie haben, aus der Prostitution eine Art von Empowerment-Gefühl ziehen, nach dem Motto „Wenn Männer sich bei mir eh nehmen was sie wollen, dann übe ich ein Stück weit Macht auf sie aus, wenn ich sie wenigstens dafür bezahlen lasse.“

Es ist richtig, dass arme Frauen einen höheren Prozentsatz in der Prostitution stellen, als Frauen mit einem reichen Elternhaus. Jedoch ist nicht jede arme Frau gleichermaßen von Prostitution betroffen: Auch bei den aus den Armenhäusern Europas gehandelten Frauen lässt sich der Zusammenhang zu dysfunktionalen Familienverhältnissen eindeutig belegen.

Es ist wahr, dass heutzutage der Prostitutionsmarkt maßgeblich von armen Frauen aus dem Ausland bestückt ist. Jedoch war er das nicht immer: Noch in den 1990er Jahren wurden überwiegend deutsche Frauen prostituiert. Die Erpressbarkeit von Frauen, die rassistisch und klassistisch diskriminiert sind, führte dazu, dass die Angebotspalette in den Bordellen immer breiter wurde und die immer brutaleren Pornos haben ihre Auswirkungen auf die Wünsche der Freier. Da deutsche Frauen im Vergleich mehr Möglichkeiten haben, ihre bloße Existenz zu sichern (Hartz IV ist in der Regel nicht existenzsichernd!), stellen diese heute nicht mehr die Mehrheit in der Prostitution.

Wenn in der Prostitution jedoch ein selbstverletzendes Verhalten gesehen wird und Frauen darin ihren erlebten Missbrauch reinszenieren, dann müssen wir uns die Frage stellen, ob deutsche Frauen nicht in anderen gesellschaftlichen Segmenten Gewalt angetan wird (z.B. Promiskuität über Single-Börsen, unentgeltlich im BDSM-Bereich, Aufmerksamkeitssuche in Reality-Show-Formaten, It-Girls etc.).
“Es ist schwer dich selbst zu schätzen, wenn du für den Preis einer Packung Zigaretten verkauft wirst” – Jade
„Zu dieser Zeit verstand ich nicht den Schaden, den Männer mir zufügten, meiner Sexualität, meinem Vertrauen, meinem Selbstwert und letztlich meiner Seele. […] Die schweren Konsequenzen der Prostitution und des sexuellen Missbrauchs bedeuteten, dass ich Menschen nicht vertrauen konnte und keine gesunde Form der Intimität ausleben konnte“ - Kat
Dieses Gefühl von Selbstermächtigung und Macht ist jedoch eine Illusion. Eine Illusion, die darüber hinaus aufrecht erhalten werden muss, um den Alltag in der Prostitution zu überstehen.
“In der Prostitution internalisierst du die Gewalt. Du hörst die gleichen abscheulichen Dinge immer und immer wieder und wirst als Schlampe, Hure, dumm oder ekelhaft bezeichnet. Trotzdem verteidigst du deine „freie Wahl“ und sagst, dass Prostitution eine Arbeit wie jede andere auch ist, denn die Wahrheit zu erkennen ist so entleerend. Du dissoziierst dich von den Männern und ihren Taten, denn niemand kann psychisch anwesend sein bei den gewalttätigen Akten in der Prostitution“ – Tanja Rahm
Langfristig wird das Selbstwertgefühl weiter zerstört und das Selbstbild entspricht mehr und mehr der Internalisierung des auf die Person projizierten Fremdbildes.
“Das Wort “Prostituierte” impliziert keine “tiefere Identität”: es ist die Abwesenheit einer Identität, der Diebstahl und die nachfolgende Aufgabe des Selbst“ – Evelina Giobbe
Die prostituierte Person wird durch den Freier zur Nicht-Person gemacht, ihre Persönlichkeit spielt keine Rolle, sie wird objektifiziert und zum Masturbationswerkzeug des Freiers gemacht, der sich in (oder auf) ihr entleeren kann. Dabei spielt es keine Rolle ob er ein Päckchen Zigaretten oder 5.000 Euro / Nacht zahlt. Es spielt keine Rolle ob sie am Straßenstrich steht oder „High-Class“-Escort ist: Das Prinzip ändert sich nicht.
“Jede Frau hat einen Arbeitsnamen […] Diese Namen sind Alter Egos, nicht ein Pseudonym, um die Identität zu schützen, wie ich zuerst geglaubt habe. Es handelt sich um Künstlernamen, die ihnen helfen, in den Charakter zu schlüpfen und sich selbst zu entfliehen“- Jacqueline Gwynne (ehemalige Rezeptionistin in einem Bordell)
„In den Zimmern musst du so tun, als würdest du den Sex mögen. […] Damit Freier wiederkommen, muss eine Frau nicht nur Sex mit ihnen haben, sondern so tun, als würde sie das ganze Erlebnis mögen. […] Ich wusste, wie man das macht, da ich mich betäubt und tot in der Gegenwart von Männern fühlte. […] Ich habe Sex durch das Ansehen von Pornos gelernt. […] Ich wusste, dass die Frauen im Porno schauspielern, da Penetration für mich immer schmerzhaft war.” – Linda
„Ich denke, dass unsere Ansichten durch die Tatsache legitimiert werden, dass wir keine emotionale Notwendigkeit mehr haben, die Industrie zu verteidigen. Als ich noch im Geschäft war, war da eine Menge kognitiver Dissonanz bei mir“ - Rae Story
Prostituierte Frauen müssen zum Selbstschutz eine Rolle spielen. Der Freier erwartet, dass ihm Vergnügen vorgespielt wird. Der weibliche Orgasmus ist Teil der männlichen Macht oder wie Bourdieu sagt „das männliche Vergnügen, Vergnügen zu bereiten“. Zum anderen ist davon auszugehen, dass Freier so ihr schlechtes Gewissen beruhigen, indem sie sich die Illusion vorspielen lassen, dass das Gegenüber es genauso will – und es sich nicht um eine Vergewaltigung handelt. Wie Studien (Farley et al.) zeigen, wissen Freier nämlich recht genau, was sie prostituierten Frauen antun.
„[Prostitution] ist die Benutzung des weiblichen Körpers für Sex durch einen Mann. Er bezahlt Geld, er tut was er möchte. In dem Moment, wo du abschweifst von dem, was da wirklich geschieht, schweifst du ab von der Prostitution in die Gedankenwelt. Du wirst dich besser fühlen; es wird angenehmer sein; es wird mehr Spaß machen; es wird eine Menge zu diskutieren geben, aber du wirst Vorstellungen diskutieren, und nicht Prostitution. Prostitution ist keine Vorstellung. [...] Es ist der Mund, die Vagina, der Po, die penetriert werden, in der Regel durch einen Penis, manchmal mit Händen, manchmal mit Objekten, durch einen Mann, dann einen anderen, dann einen anderen, dann einen anderen und einen anderen. Das ist, was es ist“ – Andrea Dworkin
Mit der Konzentration der Debatte auf die tatsächlichen oder vermuteten „Wahlmöglichkeiten“ wird auch übersehen, dass Prostitution aus der Sicht des Freiers immer das Gleiche ist, völlig unabhängig von dem tatsächlichen oder vermeintlichen Freiheitsgrad der prostituierten Person: Das Kaufen sexueller Handlungen, die ohne materielle (oder sonstige) Entschädigung sonst zu 99,9% nicht stattfinden würden. Deshalb ist Prostitution das Durchsetzen eigentlich ungewollter sexueller Handlungen, weshalb wir sie als sexuelle Gewalt betrachten. Das Kaufen von sexuellen Handlungen im Übrigen, die ausschließlich auf die kaufende Person ausgerichtet sind, und der sich die prostituierte Person unterzuordnen hat (im Übrigen auch dann, wenn sie eine Domina ist).

Wieso lassen wir uns auf diese Debatte über Wahl oder Zwang und das Spiel mit den Prozentzahlen überhaupt ein? Und wieso weisen wir nicht stattdessen darauf hin, dass für 100% der Freier Prostitution eine Wahl ist?
“Wenn wir über Prostitution sprechen, dann werden meist Mädchen und Frauen ins Scheinwerferlicht gerückt, und man erwartet von ihnen, dass sie erklären, warum sie in der Prostitution gelandet sind. Männer werden nicht gebeten, zu erklären, warum sie diesen Mädchen Schaden zufügen oder warum sie die Körper von Frauen und Mädchen in der Prostitution benutzen. […] Heute weiß ich, dass ich keine Rechtfertigung dafür brauche, für die Art und Weise, in der Männer mich behandelt haben. Sie haben mich ausgebeutet, sie haben mich sexuell belästigt, das liegt nicht in meiner Verantwortung und ich muss nicht erklären, warum sie ein Mädchen prostituiert und sexuell verletzt haben. Es ist niemals die Schuld des Mädchens und es sind niemals die Rahmenbedingungen, in denen das Mädchen ist, die dazu führen, dass es prostituiert wird. […] Wir sollten nie die Frauen in der Sexindustrie verurteilen oder beschämen, völlig unabhängig von deren Analyse der Industrie und dessen Auswirkungen.“ - Kat
Stattdessen werden prostituierte Frauen in die Situation gebracht, sich zu erklären, zu erklären warum sie sich prostituieren. Sie sollen ihre Lebenssituation offen legen, damit wir entscheiden können, ob sie unser Mitleid verdienen oder nicht. Damit wir abwägen können, ob sie auch andere Möglichkeiten gehabt hätten.

Wem nützt es, die Frau zu beschämen, die von klein auf darauf konditioniert wurde, sexuelle Männerwünsche zu befriedigen, wenn man ihr sagt „Ich habe so viel Selbstachtung, dass ich mich niemals prostituieren würde“? Welches Gefühl gibt man ihr, wenn man ihr zu verstehen gibt, man selbst würde lieber heroisch verhungern, als in existenzieller Not Männern Zugriff auf den eigenen Körper zu gewähren? Ist es nicht verständlich, wenn Frauen, die so gesellschaftlich abgewertet werden, einen Trotz entwickeln und versuchen, sich ein Image einer „starken, selbstbestimmten Hure“, die „nicht umsonst die Beine breit macht“, sondern sich dafür bezahlen lässt, aufzubauen, um ihr Selbstbild zu schützen?

Es sind nicht die Frauen in der Prostitution, die sich selbst erniedrigen, sondern es sind die Männer, die Frauen kaufen, die diese nicht als einen vollwertigen Menschen mit einem Wert betrachten.
“Ich musste mich selbst belügen, damit mein Gehirn nicht in eine Million Einzelteile zerfällt und ich durch den fortgesetzten Missbrauch, der immer und immer wieder geschah, die Gewalt und alles andere, das mit der Prostitution einhergeht, nicht verrückt wurde“ – Autumn Burris
“Psychisch betrachtet wird deine Identität beschädigt, du bekommst einen anderen Namen, du wirst zu einer anderen Person in der Prostitution. Du entwickelst dich von deinem realen zu deinem falschen Ich. Ich war von der Realität dissoziiert, ich hatte PTSD, ich wandelte umher wie in einem Traum“ - Jade
“Das Erste, was wir Menschen tun, in einer intolerablen Situation, der wir nicht entfliehen können, ist es, unsere subjektive Realität auszulöschen. Wir weichen aus und vermeiden es, die Natur der Situation zu akzeptieren. […] Mit dem Aufkommen dieser neuen [Sexarbeits-] Ideologie, wird Frauen ein neues Werkzeug-Set gereicht, mit dem sie sich und anderen etwas vormachen können“ – Rachel Moran
Wenn Menschen keinen Ausweg sehen, dann kann eine Strategie darin bestehen, sich die Situation schön zu reden. Wie bereits erwähnt, führt die Übernahme einer positiven Sicht auf die Prostitution jedoch in der Regel nicht tatsächlich zu einer Selbstermächtigung, sondern zur weiteren Zerstörung der eigenen Identität.
“Ich fühle mich so, als wäre da nur sehr wenig von “mir” selbst übrig, da ich so viel Zeit damit verbracht habe, so zu tun, als wäre ich jemand anderes. Ich fühle mich nach all den Jahren im Inneren immer noch wie ein Escort, wie eine, die eine lange Zeit keinen Freier gemacht hat. […] Die wirkliche Welt fühlt sich unwirklich an. Es fühlt sich an, als ob ich jeden Moment zerbröckeln könnte und wieder zurück im Bordell bin, in dem Männer sich hintereinander aufreihen, um mir weitere Narben zuzufügen“ – Kendra Chase
 „Das Problem mit der Dissoziation ist, dass du, wenn du ein Leben voll von sexueller Ausbeutung einmal verlässt, dass du nicht einfach zur Normalität zurückkehren kannst. Dissoziation wird zu einem Bestandteil deines Alltags“ – Autumn Burris
Dies führt zu einer Art Verbundenheit mit dem System der Prostitution, auch dann noch, wenn es (meistens) mit Hilfe einer Therapie irgendwann gelingt, die psychologischen Mechanismen zu durchschauen und die eigene Zeit in der Prostitution zu reflektieren.
“Ich habe mich in der Sexindustrie willkommen gefühlt, zu Hause in einer Schwesternschaft von Außenseiterinnen. Jede hatte einen Hintergrund, der meinem ähnelte. Ich war nicht länger die eine Merkwürdige. […] Je länger ich blieb, umso sozial isolierter wurde ich. Die Mainstream-Welt wurde beängstigend: ein Ort an dem ich entblößt und beschämt werden konnte […] Mein Herz schrie nach einem Ausstieg, aber wie Frauen in Gewaltbeziehungen fühlte ich mich im Inneren verloren und gebrochen und kehrte immer wieder zurück. Ich kehrte häufig aus purer Einsamkeit zurück. Ich fühlte mich den Freiern und den Frauen, die wie ich waren, und deren echte Namen ich meistens nicht einmal kannte, näher, als irgendeinem anderen Menschen auf dieser Welt. Wegzugehen bedeutete, diese Verbindung zu verlieren. Zurückzugehen war wie nach Hause zu kommen, wonach ich mich so sehnte und was ich von meiner Familie nie bekommen habe. Binnen Tage oder Stunden plante ich meine nächste Flucht.“ - Christie
„Schon beim nachmittäglichen Rundgang durch das Frankfurter Bahnhofsviertel, in dem sich ein Puff an den anderen reiht, habe ich das merkwürdige Gefühl, als Zuschauerin hier fehl am Platze zu sein. Wenn ich an den Laufhäusern hochsehe (Verrichtungszimmerfenster an Verrichtungszimmerfenster an Verrichtungszimmerfenster…) habe ich das untrügliche Bedürfnis, lieber „auf Zimmer“ gehen zu wollen: da wüsste ich wenigstens, wie ich mich zu verhalten hätte, da kenne ich die Abläufe, das Programm, das, was ich zu sagen habe, aber so, als Beobachterin im Rotlichtmilieu? Ein schräger Gedanke. Hier zu sein ist wie zu einem Ex zurückzukehren, der einen schlägt: es ist wie nach Hause kommen, alles ist vertraut, aber es fühlt sich gleichzeitig völlig falsch an.“ Huschke Mau
Prostituierte Frauen fühlen sich in der Prostitution unter „ihresgleichen“. Dort finden sich Frauen mit einer ähnlichen Lebensgeschichte, vor und innerhalb der Prostitution. Während die gesellschaftliche Trennung in Heilige und Huren, also die Spaltung der Frauen (die, wie wir später noch sehen werden, nicht trägt) ihren Teil dazu beiträgt. So merkwürdig es vielleicht klingt, missbrauchende Freier sind mitunter der einzige soziale Kontakt.
“Meine Familie hörte, dass ich in einem Bordell gearbeitet habe und ich hatte den Ruf, eine „Nutte“ zu sein, weg, obwohl ich an der Universität studierte. Diese erste Erfahrung hat mich in den Augen von anderen befleckt“ – Linda
„Wenn ich heute weine, dann aufgrund des Heilungsprozesses, durch das Bewältigen. Es ist das Opfer, das weint, es ist die Überlebende die weint. Ich denke mir: „Wirklich? Ich? Ich bin draußen? Und ich bin hier? Ich unterstützte 150 Menschen beim Ausstieg?“ Ich dachte niemals, dass ich irgendwann hier sein würde”- Ne`cole Daniels
Der Ausstieg aus der Prostitution ist nicht nur deshalb schwer, weil auch ausgestiegenen Frauen im Falle des Öffentlichwerdens ihrer Tätigkeit für immer der Hurenstempel anhängt. Ehemalige Freier, die in unserer Gesellschaft nicht stigmatisiert sind, tratschen offen darüber, dass sie „da auch schon mal drüber durften“. Auch Filmaufnahmen aus der Prostitution tragen das Risiko mit sich, jederzeit geoutet zu werden.

Es reicht nicht, die rein materiellen Bedürfnisse wie Existenzsicherung, ein Dach über dem Kopf oder ggf. eine andere Beschäftigung sicherzustellen, sondern es handelt sich um einen komplizierten psychologischen Abnabelungsprozess.
 „Gestörte Selbstwahrnehmung und extrem niedriges Selbstwertgefühl isolieren die meisten Prostituierten von ihrer nichtprostitutiven Umgebung. Nach Jahren im Milieu kennen die meisten Frauen eben auch nur noch Menschen, die in diesem leben. Es ist wie eine Parallellwelt. Und manchmal, da kommt sie einem auch vor wie „die Wahrheit“. Denn man hat kein Vertrauen mehr zu seinen Mitmenschen, vor allem nicht mehr zu Männern. Man weiß ja jetzt und hat am eigenen Leib erlebt, wozu sie fähig sind und was also von der bürgerlichen Fassade „da draußen“ zu halten ist. Denn Freier rennen ja nicht nur im Milieu rum, sondern auch „da draußen“ in der „normalen“ Welt. Nur ist es dort eben so, dass man als (ehemalige) Prostituierte dort nicht nur von ihnen beschämt wird, während die Freier eben nicht beschämt oder zur Verantwortung gezogen werden. Da kann man auch gleich in der Prostitution bleiben: da ist es quasi wenigstens ehrlich, Gewalt gegen Geld. Alle wissen, was man tut, tun dasselbe, die Regeln sind vertraut, die Mechanismen ebenso.“ - Huschke Mau
Das Durchschnittsalter für den Einstieg in die Prostitution liegt bei 14 Jahren. Wenn ein junges Mädchen in diese Welt kommt und quasi in dieser aufwächst, dann entsteht eine Orientierungslosigkeit in Bezug auf die Gesellschaft außerhalb des Milieus. Das gleiche gilt für Frauen, die einen Großteil ihres Erwachsenenlebens in der Prostitution verbracht haben.

Das bedeutet für eine Frau, die nach vielen Jahren im System Prostitution aussteigen möchte, nicht nur, dass sie das Problem hat, eine anderweitige Existenzsicherung zu generieren, sondern auch im Alltag klar kommen muss. Dass ein neues soziales Netzwerk aufgebaut werden muss
„Wenn wir aus der Prostitution aussteigen ist das der Beginn eines langen Kampfes zurück in das Menschsein, zurück zur Würde, zurück zum Selbstrespekt und zurück in ein Leben, das sicher gemacht werden kann. Es ist eine Wiedergeburt, und wie ein Neugeborenes kennen oder verstehen wir nicht die Regeln der „realen“ Welt. Ich erinnere mich, dass ich nicht wusste, wie man einkauft, weil die Freier so viel mitgebracht haben. Ich hatte keine Ahnung, wie man Rechnungen bezahlt, wie man nach einem sicheren Ort sucht oder nach Arbeit. Ich wusste nicht, wie man eine Erwachsene ist, da ich immer noch geschädigtes Kind und Teenager in mir trug. Ich war am ertrinken, aber erhielt keine Hilfe, keine Unterstützung – jeden Millimeter zurück in ein „reales“ Leben musste ich mir erkämpfen.“ – Rebecca Mott
“Wem täglich und stündlich die Grenzen verletzt wurden, der kann sich mitunter nicht mehr in der Nähe von Menschen aufhalten, weil das innere Alarmsystem ständig signalisiert: „Das ist ein Mann, Gefahr!“ Davon, wie es ist, „draußen“ zu sein und getriggert zu werden und Flashbacks zu haben, will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Albträume und andere Schlafstörungen machen müde. Es ist fast unmöglich, die Fassade aufrecht zu erhalten und in ein „normales Leben“ zu wechseln. Man fühlt sich zudem „anders“ als die Anderen, minderwertiger, verletzter. Kaputt. Menschen sind einem unheimlich, die „normalen“ Menschen erst recht, denn sie führen einem vor Augen, wie man nicht mehr ist: ohne Sorgen, ohne Verletzungen, ohne Ängste. Ganz. Nett. Gut drauf. – Um die Prostitution zu ertragen, muss man sich vom eigenen Körper abspalten (Dissoziation). Das Problem ist, man kann danach eben nicht einfach wieder reinschlüpfen. Der Körper bleibt ohne Kontakt zur Seele, zur Psyche. Man fühlt sich einfach nicht mehr. Ich hab mehrere Jahre gebraucht, um zu lernen, dass das, was ich manchmal fühle, Hunger ist. Und dass man dann was essen sollte. Oder dass das, was ich gerade empfinde, zeigt, dass ich friere. Und dass man sich dann wärmer anzieht. Es ist mühsam zu lernen oder wieder zu lernen, dass der Körper Bedürfnisse hat, ihn zu fühlen, und noch mühsamer, sich in „selfcare“ zu üben. Nicht mehr so scheiße mit sich selbst umzugehen. Sondern zu schlafen, wenn man müde ist – weil man nicht in einem 24-Stunden-Bordell hockt und den nächsten Freier machen muss. Dass man nicht mehr frieren muss – weil man nimmer am Straßenstrich steht bei Minustemperaturen. Dass man Situationen, die Schmerzen verursachen, ändern kann, statt den Schmerz wegzumachen – mittels Dissoziation, Drogen oder Alkohol. Aber so leicht entlässt das Trauma einen nicht: denn man gewöhnt sich dran. Das Phänomen nennt sich „trauma bonding“: und das ist auch der Grund dafür, warum Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden, immer wieder zurückgehen.“ - Huschke Mau
Das, was für andere Menschen selbstverständlich ist, muss neu gelernt werden, wie ein kleines Kind, das Laufen lernt. Dies alles zusätzlich zu dem täglichen Kampf ums Überleben aufgrund der notwendigen Traumaverarbeitung.
„Ausgestiegen zu sein bedeutet, täglich den Mut aufzubringen, zu wissen, wo du herkommst, dieses Wissen zu nutzen und die Selbstverletzungen abzulehnen, die es einfacher machen in der Leblosigkeit der Prostitution. Ich bin täglich verblüfft und erstaunt über die ausgestiegenen Frauen, die diese Reise ohne spezialisierte Therapie geschafft haben, ohne Unterstützung durch eine Wohnung, ohne zu wissen, ob sie ihre Kinder behalten können oder nicht, ohne eine Arbeit und in der Regel mit physischen und geistigen Gesundheitsproblemen. Ausgestiegene Frauen sind die mutigsten Menschen, die ich kenne – denn die Gesellschaft gibt ihnen wenig oder nichts, aber sie haben die Würde und den Selbstrespekt, aufzuklären, um wirkliche Freiheit und Veränderung für alle prostituierten Frauen zu erreichen“ – Rebecca Mott
Der Ausstieg aus dem System der Prostitution ist ein langer Prozess und diesen zu schaffen ist eine Leistung, die nicht selbstverständlich ist und die unseren größten Respekt verdient. Wenn eine Organisation wie Talita in Schweden einjährige und sehr aufwändige Rehabilitationsprogramme anbieten kann, dann ist das großartig. In den meisten Ländern gibt es diese Hilfen jedoch nicht.

Es mag auf diesem Hintergrund nicht verwundern, dass manche Frauen den Weg aus der Prostitution heraus nicht schaffen. Oder dass es oft vieler Versuche bedarf und viele Rückschläge auf dem steinigen Weg liegen.

Das müssen wir auch berücksichtigen, wenn wir auf jene Frauen blicken, die selbst auf die ZuhälterInnenseite wechseln.

Frauen, die ins Ausland gehandelt wurden und in Schuldsklaverei (fingierten „Schulden“) gehalten werden, können sich freikaufen, indem sie Nachwuchs aus dem Heimatland rekrutieren (so genannte Second Waver). Manchen werden daraufhin die Schulden tatsächlich erlassen, anderen nicht und sie müssen sich weiter prostituieren.
“Ich habe mein eigenes Bordell eröffnet. Ich habe es als einen Weg gesehen, der Kontrolle und Weisung anderer Madams zu entkommen und als einen Weg, anderen Frauen einen sicheren und glücklichen Ort für ihr Geschäft anzubieten. Ich habe versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass mein Bordell anders sein würde. Ich musste lernen, dass es nicht anders war.“ – Kendra Chase
„Ich bin noch weitere fünf Jahre in der Sexindustrie geblieben. Während dieser Zeit wurde ich sogar selbst eine Madam. Das kam von alleine, denn ich war lange genug drin, um die Tricks des Business auf beiden Seiten zu kennen. Ich habe andere Frauen davon überzeugen können, eine Karriere als Prostituierte zu starten. [….] Ich hasse mich selbst dafür. Es hat auch nicht lange gedauert, bis ich selbst wieder arbeitete“ - Jade
Das Feld der Prostitution ist ein autonomes Feld mit eigenen Regeln und Gesetzen. Das „Milieu“ ist eine Parallelwelt, in der nicht die üblichen Institutionen „das Sagen“ haben. Es wird „Standgeld“ auf dem Straßenstrich kassiert, Bordelle und Terminwohnungen werden mit Profitabsicht betrieben. Diejenigen, die hier das große Geld machen, sind nicht die prostituierten Frauen, wie Studien eindeutig zeigen: Eine deutliche Mehrheit ist bereits während ihrer aktiven Zeit in der Prostitution auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen.

Frauen, die (teilweise oder ganz) auf die Seite der ZuhälterInnen wechseln und anfangen, als Betreiberin eines Kleinbordells oder Studios anteilsmäßig an der Prostitution anderer zu verdienen, können damit zwar mitunter die eigene Prostituierung einschränken oder aufgeben. In der Feldhierarchie gelingt ihnen damit jedoch nur ein kleiner Aufstieg auf die unterste Ebene der ZuhälterInnenhierarchie – sie verdienen nicht annähernd so viel wie die „großen Player“. 

Der Vorteil, der sich hieraus gegenüber einem Komplettausstieg aus dem Milieu ergibt: Sie müssen ihre eigene Identität nicht gefährden, indem sie das Bild von Prostitution als „Arbeit wie jeder andere“ vor sich entlarven und sie verbleiben in dem Umfeld, das sie kennen, das ihnen vertraut ist und sie müssen nicht lernen, sich in einer anderen Welt zurechtfinden.

Jacqueline Gwynne kam von außen und begann einen Job als Rezeptionistin in einem Bordell, da sie durch die gesellschaftliche Normalisierung von Prostitution als Sexarbeit kein Problem darin sah, in einem Bordell zu arbeiten. Erst viel später, durch ihre Erlebnisse dort, den Kontakt mit den Freiern und die Gespräche mit den prostituierten Frauen wurde ihr klar, dass sie de facto als Zuhälterin arbeitete. Sie musste erst reflektieren, was dort passiert, um ihre eigene Rolle in der Sexindustrie zu verstehen.
“Sie stand auf einem Stuhl, überragte die ZuhörerInnenschaft, die mich hören wollte; sie buhte, sie unterbrach mich und brüllte. Ich spürte keinen Ärger darüber und war auch nicht genervt. Ich identifizierte mich komischerweise mit ihr. [Ich dachte] mir, dass sie Angst hat. Ich kann es sehen, denn ich habe selbst diese Verteidigungshaltung gespürt. „Nimm mir nicht meine Existenzgrundlage. Ich hab noch nichts anderes. Ich kann nirgendwo anders hin.“ – Sabrinna Vallisce
Frauen, die noch in der Prostitution sind, reagieren oft deshalb heftig auf Frauen, die die Wahrheit über die Prostitution aussprechen, da diese eine Gefahr sind für ihre zurechtgebastelte Selbstschutz-Identität.

Deshalb ist es immer wichtig, sich daran zu erinnern: Prostituierte Frauen schulden uns nichts. Sie können sich nennen, wie sie möchten und ihre Lebenssituation für sich interpretieren, wie sie möchten. Sie müssen sich nicht von uns über ihre Prostitution belehren lassen und verdienen unseren Respekt auch dann, wenn sie politisch eine andere Meinung vertreten. Von außen jemanden von oben herab zu belehren, dass sie ihre Situation nicht erkennt und schön redet, hilft einer Frau in der konkreten Situation nicht, im Gegenteil: Es beschämt sie und trägt in der Tat einen paternalistischen, bevormundenden Zug in sich.

Alle prostituierten Frauen haben ein Recht an der Partizipation an der gesellschaftlichen Debatte um Prostitution und ihre Stimmen sind auch dann relevant, wenn wir nicht mit ihnen übereinstimmen, unabhängig davon ob sie Straßenprostituierte oder Domina sind. Auch von jenen, die nicht unsere politischen Ansichten teilen, können wir über die Realität in der Prostitution und das System Prostitution lernen.
“Jeden rechtlichen Meilenstein, den ich und viele andere Frauen, die weltweit für diese Rechtsprechung erreichen, bezahlen wir, in dem wir Opfer einer organisierten Kampagne aus Beschimpfungen und Einschüchterung werden. Diejenigen, die Kampagnen gegen die Gesetze führen, für die ich kämpfe, haben Zugriff erhalten auf meine Wohnadresse, Kontodaten und persönliche E-Mail. Nun landen die Beschimpfungen direkt in meinem Posteingang, auf meinem Blog und ich wurde mehrfach mit meiner Wohnadresse angetweetet in einer „Wir wissen, wo wir dich finden können“-artigen Drohung. […] Diejenigen, die sich an diesem Verhalten beteiligen, beschreiben sich selbst als Aktivistinnen für die Rechte von „Sexarbeiterinnen“. Die meisten von diesen Frauen waren vermutlich selbst nie prostituiert“ – Rachel Moran
Das Gleiche gilt jedoch auch anders herum: Eine Person, die prostituierte Frauen, die nicht der Meinung sind, dass Prostitution „Sexarbeit“ ist, beschämt, beschimpft, einschüchtert, bedroht oder für das, was Männer ihr angetan haben, verantwortlich macht, hat unsere harte Kritik verdient – selbstverständlich auch dann, wenn sie selbst prostituiert ist.

Eine Frau, die (nicht gegen ihren ausdrücklichen Willen) zur Madam aufsteigt, ist, wie jede Person, die an der Prostitution Dritter profitiert, selbstverständlich strafrechtlich zu belangen. Ihr eine Mitverantwortung abzusprechen wäre unfair jenen gegenüber, die diesen Weg nicht gehen. Sie steht jedoch nicht auf einer Stufe mit den Männern, die nie selbst prostituiert waren.

Wenn Prostitution gesellschaftlich die Funktion erfüllt, die niedrigere Gesellschaftsposition der Frau in der Geschlechterhierarchie aufrecht zu erhalten, dann profitiert gesellschaftlich keine Frau von ihr, auch dann nicht, wenn sie ökonomisch an den Profiten partizipiert.
„Prostitution steht nicht außerhalb dieser Gesellschaft, sie wird von ihr hervorgebracht und auch benötigt, um das traditionelle Rollenbild immer und immer wieder zu zementieren“ - Huschke Mau
Prostitution ist nicht nur deshalb ein Problem, weil in ihr die marginalisiertesten Frauen der Gesellschaft sexistisch, rassistisch und klassistisch ausgebeutet werden. Sie ist auch deshalb ein Problem, weil sie Auswirkungen auf ALLE Frauen hat, die prostituierten und die nicht-prostituierten Frauen. Nicht nur auf einer individuellen Ebene (Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten, Erpressbarkeit bei Nichterfüllen seiner sexuellen Wünsche, …), sondern auch gesamtgesellschaftlich. Kate Millet bezeichnete die Prostitution im Jahr 1981 deshalb als „Exempel für die soziale Situation der Frau, wie sie im Grunde nach besteht.“

Gesellschaftliche Rituale übernehmen die Funktion, Männer und Frauen voneinander zu trennen. Mit diesen Ritualen werden symbolische Kämpfe unter Männern ausgefochten, die der „Entweiblichung“ bzw. „Arbeit an der Mannwerdung“ dienen. In Männern vorbehaltenen Räumen wird der männliche Habitus gebildet, hier wird sich gegenseitig die Männlichkeit bewiesen und sich die Zugehörigkeit zur Gruppe der „wahren Männer“ bestätigt. Der weibliche Körper ist ein Objekt, welches unter Männern zirkuliert und mit dem sie ihr symbolisches Kapital mehren. Prostitution ist deshalb eine kollektive und individuelle Praxis, die dazu beiträgt, Männern (Freiern wie Nicht-Freiern!) ihre gesellschaftliche Vormachtstellung zu sichern.

Der Soziologe Michael Meuser fasst dies wie folgt zusammen: „Homosozialität meint die räumliche Separierung exklusiv männlicher Sphären, d.h. die Konstitution von Orten, zu denen Frauen der Zutritt verwehrt wird. Homosoziale Männergesellschaften sind lebensweltliche Orte, an denen sich Männer wechselseitig der Normalität und Angemessenheit des eigenen Gesellschaftsverhältnisses vergewissern können. […] In einer Epoche, in der die gesellschaftliche Vormachtstellung des Mannes verstärkt in Frage gestellt wird, dient die wechselseitige Vergewisserung der eigenen Normalität mehr noch, als sie es schon immer getan hat, der Sicherung männlicher Hegemonie“
„Erst muss sie die richtige Einstellung zeigen, dann darf sie sprechen – in Illustrierten, im Fernsehen, in politischen Gruppen.“ – Andrea Dworkin
Wenn wir uns fragen, warum jenen ein größerer Raum eingeräumt wird, deren Argumentation darauf abzielt, Prostitution zu erhalten, dann liegt dies daran, dass diese dem Status Quo nützen. Sie dafür verantwortlich zu machen, dass Prostitution weiter existiert, bedeutet eine Verantwortungsverlagerung, denn sie werden in der Debatte von jenen, die ihre Positionen kulturell prominent promoten, nicht wirklich ernst genommen, sondern letztlich nur benutzt.

Selbstredend: Nicht alle Frauen sind gleichermaßen von Prostitution betroffen, denn natürlich macht es einen Unterschied, ob der Körper einer Frau von einem Mann sexuell benutzt wird oder nicht.

Dennoch ist es wichtig, festzuhalten, dass die Existenz von Prostitution Auswirkungen auf alle Frauen hat und deshalb alle Frauen (primär oder sekundär) Betroffene sind. Durch die Prostitution wird dem männlichen Kollektiv ein unbeschränkter Zugriff auf den weiblichen Körper ermöglicht. Wir müssen verstehen lernen, dass prostituierte Frauen nicht „andere Frauen“ sind, sondern JEDE von uns sich an ihrer Stelle befinden könnte.

Statt uns an prostituierten Frauen abzuarbeiten, sie zu belehren, von ihnen Rechtfertigungen zu verlangen, sie zu beschämen, sollte der Fokus immer klar auf jenen liegen, die der Grund sind, warum Prostitution existiert, den Freiern und allen Männern, die sich nicht deutlich gegen Freiertum positionieren, sind sie doch - im Gegensatz zu jeder beliebigen Frau - Nutznießer der Existenz der Prostitution.

Quellen der Betroffenenzitate

Caroline Norma, Melinda Tankard-Reist (Hrsg.): Prostitution Narratives: Stories of Survival in the Sex Trade, Spinifex Press: 2017

Bindel, Julie: The Pimping of Prostitution, Palgrave MacMillan: 2017

Huschke Mau: Der Freier: 2016, http://kritischeperspektive.com/kp/2016-34-der-freier/

Huschke Mau: Warum ist der Ausstieg aus der Prostitution so schwer? 2017, https://huschkemau.de/2017/06/15/warum-ist-der-ausstieg-aus-der-prostitution-so-schwer/

Melissa Farley: Prostitution, Liberalism, and Slavery: 2013, http://logosjournal.com/2013/farley/

Rachel Moran: Ich habe die Kraft des Abolitionismus gesehen: 2014, http://abolition2014.blogspot.de/2014/09/ich-habe-die-kraft-des-abolitionismus.html

Rebecca Mott: Andrea Dworkin on Prostitution: 2009, https://rebeccamott.net/2009/04/18/andrea-dworkin-on-prostitution/

Rebecca Mott: Exiting into a void: 2016, https://rebeccamott.net/2016/04/13/exiting-into-a-void/

Andrea Dworkin: Geschlechtsverkehr, Klein Verlag: 1993

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